Strategie & Transformation

Datenanforderungen digitaler Zwilling: von Sensorik bis PLM – was KMU wirklich brauchen

Datenanforderungen digitaler Zwilling: Sensorik bis PLM für KMU

Der digitale Zwilling gilt als Königsdisziplin der Industrie 4.0 – und gleichzeitig als eine der größten Hürden für mittelständische Maschinenbau-Unternehmen. Während Konzerne mit millionenschweren IT-Budgets bereits heute ihre Anlagen und Produktionsprozesse virtuell abbilden, stehen KMU vor der praktischen Frage: Welche Daten brauchen wir überhaupt, und wie kommen wir kostensinnvoll an sie heran?

Die Antwort ist komplexer als gedacht, aber auch pragmatischer als viele Softwareanbieter suggerieren. Denn nicht jeder digitale Zwilling muss alle Aspekte einer Maschine bis ins kleinste Detail modellieren. Entscheidend ist vielmehr eine kluge Datenanforderungs-Strategie, die den tatsächlichen Mehrwert im Blick behält.

Grundlagen verstehen: Was bedeuten „Datenanforderungen“ beim digitalen Zwilling?

Digitale Zwillinge gelten als zentrale Werkzeuge für Industrie 4.0 und brauchen ein standardisiertes Datenmanagement im Industrieeinsatz. Doch bevor Unternehmen in teure Sensorik oder PLM-Systeme investieren, sollten sie zunächst definieren, welche Fragen der digitale Zwilling beantworten soll.

Typische Anwendungsszenarien in KMU sind:

  • Predictive Maintenance: Wann muss die Spindel getauscht werden?
  • Prozessoptimierung: Wo entstehen Engpässe in der Fertigungslinie?
  • Produktentwicklung: Wie verhält sich das neue Bauteil unter realen Bedingungen?

Jeder Anwendungsfall stellt unterschiedliche Datenanforderungen. Eine Wartungsvorhersage benötigt primär Vibrations- und Temperaturdaten, während die Prozessoptimierung eher Durchsatzraten und Taktzeiten erfordert.

Von Sensordaten bis Konstruktionsdaten: Die vier Datenkategorien im Überblick

Sensordaten: Der Puls der Maschine

Durch die Sensorik wird die sogenannte „vorausschauende Wartung“ (Predictive Maintenance) möglich, da Maschinen nur dann gewartet werden, wenn es tatsächlich notwendig ist. Moderne Sensoren liefern kontinuierlich Messwerte zu Temperatur, Druck, Vibration und Energieverbrauch.

Praktisch zeigt sich jedoch: Viele KMU beginnen mit zu vielen Sensoren und zu wenig Auswertung. Sinnvoller ist oft ein schrittweises Vorgehen. Ein mittelständischer Werkzeugmaschinenhersteller aus Baden-Württemberg startete beispielsweise mit nur drei Temperatursensoren pro Spindel und erweiterte das System erst nach ersten Erfolgen.

Kostenfaktor: Industrielle IoT-Sensoren kosten zwischen 50 und 500 Euro pro Stück, hinzu kommen Verkabelung und Dateninfrastruktur.

Maschinendaten: Die operative Realität

Die zweite Datenkategorie umfasst alle betrieblichen Parameter: Maschinenzustände, Produktionszeiten, Ausschussraten und Stillstandszeiten. Diese Informationen sind häufig bereits in der SPS oder im MES vorhanden, aber nicht systematisch ausgewertet.

Bemerkenswert ist dabei die oft schlechte Datenqualität. Viele Maschinen melden zwar „Störung“, aber ohne präzise Ursachenzuordnung. Hier lohnt sich eine Datenbereinigung vor der Implementierung eines digitalen Zwillings.

Konstruktionsdaten: Das digitale Gedächtnis

CAD-Modelle, technische Zeichnungen und Stücklisten bilden das strukturelle Rückgrat jedes digitalen Zwillings. Problem vieler KMU: Diese Daten liegen oft in verschiedenen Systemen vor – CAD hier, PDM dort, ERP an dritter Stelle.

Ein PLM (Product Lifecycle Management)-System sorgt für eine durchgängige Verwaltung aller produktbezogenen Daten und Prozesse und reduziert Fehlerquoten durch zentrale Datenhaltung. Besonders für kleinere Unternehmen ist die Integration verschiedener Datenquellen jedoch eine technische und finanzielle Herausforderung.

Betriebsdaten: Der Kontext macht den Unterschied

Auftragsdaten, Materialinformationen und Qualitätsmessungen ergänzen das Bild. Sie erklären, warum eine Maschine zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Parameter aufwies. Ohne diesen Kontext bleiben Sensordaten oft aussagelos.

PLM als Datendrehscheibe: Chance oder Kostenfalle für KMU?

PLM-Systeme können auch in KMUs Wachstum fördern und die Effizienz steigern, wobei die Zukunft im PLM liegt und wertvolle Daten über den gesamten Produktlebenszyklus verwaltet werden. Ein durchgängiges Product Lifecycle Management verspricht die Integration aller relevanten Produktdaten – von der ersten Idee bis zum Service.

Doch die Realität sieht oft anders aus. Viele KMU scheitern an der Komplexität der PLM-Einführung oder an unklaren ROI-Berechnungen. Erfolgreicher ist meist ein modularer Ansatz: Starten Sie mit einem PDM-System für die Konstruktionsdaten und erweitern Sie schrittweise um weitere Module.

Typische PLM-Stolpersteine in KMU

Die häufigsten Probleme entstehen durch unrealistische Erwartungen. Ein PLM-System ist kein Selbstläufer – es braucht kontinuierliche Datenpflege und klare Prozesse. Viele Unternehmen unterschätzen auch den Aufwand für die Datenintegration. Legacy-Systeme und gewachsene IT-Landschaften erschweren die nahtlose Anbindung.

Praxistipp: Beginnen Sie mit einer Bestandsaufnahme aller vorhandenen Datenquellen, bevor Sie ein PLM-System auswählen. Oft zeigt sich dann, dass 80% der benötigten Daten bereits vorhanden, aber nicht verknüpft sind.

Datenintegration in der Praxis: Von Insellösungen zur durchgängigen Architektur

Low-Code-API-Frameworks ermöglichen es, Brücken zwischen PLM und anderen essentiellen Systemen wie CAD, ERP und Supply-Chain-Tools zu schlagen. Die technische Umsetzung der Datenintegration muss dabei nicht zwangsläufig komplex sein.

Moderne Ansätze setzen auf API-basierte Architekturen und Cloud-Plattformen. Dadurch lassen sich auch kleine Datenmengen kostengünstig verarbeiten und verschiedene Systeme schrittweise anbinden.

Cloud versus On-Premises: Die Kostenfrage

Für viele KMU ist die Cloud inzwischen die wirtschaftlichere Option. Statt hoher Investitionen in Server und IT-Personal fallen planbare monatliche Kosten an. Gleichzeitig profitieren Unternehmen von automatischen Updates und professionellem Support.

Bedenken bezüglich Datenschutz und -sicherheit sind oft berechtigt, aber durch deutsche oder europäische Cloud-Anbieter meist lösbar. Wichtiger ist die Frage nach der Datenhoheit: Können Sie Ihre Daten jederzeit exportieren und zu einem anderen Anbieter wechseln?

Die fünf wichtigsten Fragen vor der Umsetzung

1. Welches konkrete Problem soll der digitale Zwilling lösen?

Beginnen Sie immer mit einem spezifischen Anwendungsfall. „Wir wollen auch einen digitalen Zwilling“ ist kein Projektziel. „Wir wollen ungeplante Stillstände um 20% reduzieren“ schon eher.

2. Welche Daten haben wir bereits, und in welcher Qualität?

Die Datenaufbereitung für digitale Zwillinge beginnt mit der Datenbereinigung und -validierung, um sicherzustellen, dass die erfassten Daten frei von Fehlern, Duplikaten und Unstimmigkeiten sind. Viele Projekte scheitern an schlechter Datenqualität, nicht an fehlendem Budget.

3. Wer kümmert sich um Datenpflege und -analyse?

Ein digitaler Zwilling ist kein Selbstläufer. Jemand muss die Algorithmen überwachen, Anomalien interpretieren und das System kontinuierlich verbessern. Haben Sie die personellen Ressourcen dafür?

4. Wie messen wir den Erfolg?

Definieren Sie messbare KPIs, bevor Sie starten. Typische Kennzahlen sind Anlagenverfügbarkeit, Wartungskosten oder Produktivitätssteigerung. Ohne klare Erfolgsmessung wird jedes Digitalisierungsprojekt zum Glaubenssatz.

5. Was passiert bei einem Anbieterwechsel?

Vendor Lock-in ist ein reales Risiko. Stellen Sie sicher, dass Sie Ihre Daten in standardisierten Formaten exportieren können und dass wichtige Algorithmen auch ohne die ursprüngliche Software funktionieren.

Kosten-Nutzen-Realität: Was KMU wirklich erwarten können

Die Investitionskosten für einen digitalen Zwilling variieren enorm – von wenigen tausend Euro für einfache Monitoring-Lösungen bis hin zu sechsstelligen Beträgen für komplexe Simulationsmodelle. Für KMU im Maschinen- und Anlagenbau ist es wichtig, kosteneffizient zu handeln sowie flexibel auf Kundenwünsche einzugehen.

Realistische ROI-Erwartungen liegen bei 12-24 Monaten für Predictive Maintenance-Anwendungen und 24-36 Monaten für komplexere Prozessoptimierungen. Wichtig ist dabei eine ehrliche Kosten-Nutzen-Rechnung, die auch Implementierungs- und Betriebsaufwände berücksichtigt.

Erfolgsfaktoren aus der Praxis

Besonders erfolgreich sind KMU, die mit kleinen, konkreten Anwendungsfällen beginnen, interne Digitalisierungs-Champions aufbauen, externe Beratung nur für spezifische Fragen nutzen, Datenqualität vor Datenquantität priorisieren und Mitarbeiter frühzeitig in die Umsetzung einbeziehen.

Ausblick: Wohin entwickelt sich das Datenmanagement für KMU?

Die nächsten Jahre werden von zwei Trends geprägt sein: Standardisierung und Demokratisierung. Industriestandards wie Asset Administration Shell (AAS) oder OPC UA vereinfachen die Datenintegration zwischen verschiedenen Systemen. Gleichzeitig machen Low-Code-Plattformen und KI-basierte Tools die Datenanalyse auch für Unternehmen ohne eigene IT-Abteilung zugänglich.

Simus Systems hat die Initiative „Interoperable Daten für den digitalen Zwilling“ gestartet, um Daten fit für zukunftsweisende digitale Systeme zu machen. Solche Brancheninitiativen zeigen: Die Industrie arbeitet aktiv daran, die technischen Hürden für KMU zu senken.

Besonders spannend sind dabei KI-gestützte Datenaufbereitungs-Tools, die automatisch Datenlücken identifizieren und Qualitätsprobleme beheben. Was heute noch Expertenwissen erfordert, könnte morgen durch intelligente Algorithmen automatisiert werden.

Fazit: Pragmatismus schlägt Perfektion

Datenanforderungen für den digitalen Zwilling sind kein abstraktes IT-Thema, sondern eine sehr konkrete Geschäftsentscheidung. KMU sollten dabei nicht dem Perfektionismus großer Konzerne nacheifern, sondern ihren eigenen, pragmatischen Weg finden.

Der Schlüssel liegt in der schrittweisen Herangehensweise: Beginnen Sie mit vorhandenen Daten, ergänzen Sie gezielt um neue Sensorik und bauen Sie Ihre Dateninfrastruktur evolutionär aus. Ein „guter“ digitaler Zwilling, der schnell Mehrwert liefert, ist besser als ein „perfekter“, der nie fertig wird.

Entscheidend ist dabei nicht die Technologie, sondern die Frage: Welche Daten brauchen wir wirklich, um bessere Entscheidungen zu treffen? Die Antwort darauf ist individuell – und genau das macht sie so wertvoll.